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Berliner Stadtverkehr

Der Berliner an sich ist ein freundlicher, zuvorkommender Mensch. Und die Berliner Bau- und Handelsfirmen und die Stadtreinigung arbeiten zusammen an einer groß angelegten Gesundheitsvorsorge.

Ich wohne in einer engen Straße, in der es einen Supermarkt gibt. Dieser Supermarkt ist klein und die Obst- und Gemüsewaren nicht immer von guter Qualität und außerdem ist alles teuer. Daneben ist ein zugehöriger Getränkemarkt und noch ein extra Bäcker. Ich kann da einkaufen, ohne mich groß wegbewegen zu müssen.

Nahezu jeden Morgen um 7, wenn die allermeisten Leute losfahren wollen, beehrt zusätzlich ein Laster zur Warenanlieferung unsere kleine Strasse. Alle Menschen, die mit dem Auto zur Arbeit fahren, werden von diesem Laster zur Ruhe gemahnt. Der Fahrer weiß ganz genau, wie er die eilenden Schäfchen im Zaum halten muss: Er stellt sich mit seinem dicken Laster mitten auf die Fahrbahn und niemand kommt daran vorbei. Als wolle er uns nachdrücklich daran erinnern, dass man in der heutigen Zeit sowieso schon zu viel Stress hat und frühmorgens gleich den Tag mit viel Ruhe beim Abwarten verbringen kann. Das scheint mir eine effektive Variante der Gesundheitsfürsorge zu sein, da man von Rumhetzerei auf Ruhe schalten soll. Er übt das oft mit uns.

Da ich meinen Arbeitsweg seit vielen Jahren kenne, fahre ich natürlich so los, dass ich bequem und ohne Hetze eine Viertelstunde vor Arbeitsbeginn meinen Arbeitsplatz erreiche. Dann habe ich noch Zeit, mit den Kollegen zu schnacken und einen Kaffee zu trinken, bevor mich die Schüler umlagern und vereinnahmen und ich versuche, ihnen Wissen in den Kopf zu klopfen.

Gestern hatte der Fahrer beschlossen, dass ich erst Ruhe halten und dann loshetzen soll. Auf meine Frage, wie lange er dort stehen würde, gemahnte er mich, beim nächsten Mal in weiser Voraussicht woanders mein Auto abzustellen, wenn ich an dem vom Getränkemarkt initiierten Gesundheits- und Ruheprogramm nicht teilnehmen wolle. Die Belieferung ist auch enorm wichtig, wird doch für die gesundheitsbewussten Menschen in der Strasse das so notwendige, Hopfen und Malz spendende, isotonische Getränk geliefert! Von diesen Menschen kann ich noch viel lernen, sind sie doch dabei auch noch die ganze Zeit draußen und trainieren bei Wind und Wetter ihr Immunsystem! Damit ihnen nicht langweilig wird, reden sie über wichtige Themen und hören charakterbildende Schlager-Musik.

 

Aber es geht ja noch weiter mit der Mahnung zur Ruhe auf meiner Strecke zur Arbeit. Unterwegs fahre ich täglich an alten und gefühlt immer neuen Baustellen vorbei. Die Laster müssen natürlich stets dann rein und raus - mit viel Brimborium, langen und langsamen Manövern und Mensch zum Helfen auf der Strasse - wenn auf der Strasse viel Verkehr ist. Klar, wie sonst sollten sie den Verkehr aufhalten und ihren Beruhigungsauftrag erfüllen? Zwischendrin leert die Stadtreinigung die Mülleimer und arbeitet am Gesundheitssystem mit. Hygiene ist wichtig und auch diese Laster tragen zur Ruhe auf den vielbefahrenen Strassen bei.

 

Entscheide ich mich stattdessen, Bahn zu fahren, erlebe ich eine neue Seite der Gesundheitsfürsorge.

Auch die Strecken und Fahrer der S-Bahn müssen mal entspannen dürfen. Sie nehmen sich die Zeit zwischendurch und fahren dann eben nicht. Dafür habe ich vollstes Verständnis, sie sollen doch auch an Gesundheitsvorsorge durch Stressabbau partizipieren!

Und dann hat ein Bahnausfall ja noch mehrere, für Berliner sehr wichtige Gesundheitskomponenten: Man steht wartend an der frischen Luft (die Profis nutzen die Zeit für Spaziergänge über den Bahnsteig) und in der nächsten Bahn holen sich die Berliner ihre Kuscheleinheiten ab. Wir leben hier in der Single-Hauptstadt, die Menschen haben ein dringendes Bedürfnis zur Nähe. So erhalten wir unsere Portion menschlicher Nähe schon vor der Arbeit. Das hat doch was! Damit man nicht mit allen gleichzeitig kuscheln muss (das schürt etwaige Eifersuchtsanfälle und hebt so den Stresspegel wieder an), muss jeder 3. Berliner regelmäßig ein Memo von der Krankenkasse bekommen, seinen Rucksack auf dem Rücken zu belassen und so für regelmäßigen Abstand zu sorgen. Was für ein ausgeklügeltes System das doch ist! Ich habe bislang dieses Memo noch nicht erhalten und bin gespannt, ob es mich auch irgendwann erreicht. Mit Freuden werde ich meine gesellschaftswichtige Aufgabe dann erfüllen.

Eine Sache stört allerdings etwas: Manche haben bestimmt noch keinen Wasseranschluss zu Hause und können sich nicht duschen oder die Klamotten waschen. Vielleicht wird wegen ihnen gebaut, damit sie endlich Wasser haben. Das ist doch wunderbar, oder? Manche sind auch offensichtlich bekennende Anhänger des Barock und tragen - gemäß ihrem Credo - Parfüme in Massen auf. Daran sieht man die vielfältigen Interessen in dieser Stadt!

Dann darf ich meine Mitmenschen bei sozial wichtigen Aufgaben erleben. Am besten finde ich das Gespräch mit anderen Menschen, die ich nicht sehe, weil die sich am anderen Ende einer Telefonleitung befinden. Das mag ich sehr gern, weil meine grauen Zellen angeregt werden, Grund und Verlauf des Gespräches herauszufinden. Das passiert automatisch und so kann ich am Morgen bereits meine erste Knobelaufgabe lösen. Netterweise dürfen alle im Zug mithören. Vielleicht reden sie aber auch mit jemanden in Übersee und wollen versuchen, das ohne Telefon hinzubekommen? Einen Versuch ist es wert, so eine Handyrechnung ist auf Dauer ja ganz schön teuer. Eine weitere spannende Frage, die ich noch beantworten muss. Gelingt mir bestimmt bald, diese Gespräche sind ja sehr häufig. Manchmal habe ich Glück und es redet jemand genau neben mir am Telefon. Dann kann ich die Antworten der anderen Person mitverfolgen. Dummerweise ist das bis jetzt immer nur in Sprachen gewesen, die ich nicht beherrsche. Aber das hat ja auch sein Gutes: Es regt mich an, andere Sprachen zu lernen.

Einige der Menschen lassen uns an ihren Essensritualen direkt in der Bahn teilhaben. Manchmal bekomme ich sogar Teile ihres Essens ab - man kann nicht sagen, dass ein Bewohner dieser Stadt knauserig wäre. Der Geruchsmix aus Parfüm und Döner mit Zwiebeln ist das Berliner Pendant zu Chanel No. 5! Jemand sollte sich daran machen, das in Flaschen abzufüllen - gleichnamige Schnapsflaschen aktueller Machart bringen das nicht rüber.

Der Berliner ist ein soziales Wesen, das sich gern den Gesundheitsvorsorge-Maßnahmen öffnet. Was lieb ich diese Stadt und ihre Leute!